terça-feira, agosto 05, 2008

Abschied von Alexander Solschenizyn


Abschied von Alexander Solschenizyn

DT vom 05.08.2008
Von Richard Wagner

Alexander Solschenizyn ist tot. Er starb am Sonntag im Alter von 89 Jahren in Moskau.
Der Literatur-Nobelpreisträger ist der Prototyp des Intellektuellen, der im 20. Jahrhundert
dem Kommunismus die Stirn des Geistes geboten hatte. Er war schon 1945 in der Sowjetunion verhaftet worden, weil er Stalin in einem Brief an seinen Schwager kritisiert hatte. Bis 1953 musste er in einem Gulag, den stalinistischen Strafgefangenenlagern, aushalten. Dann wurde er in die Steppe Kasachstans verbannt. 1957 erst rehabilitiert, wurde er 1969 dann doch aus dem Schriftstellerverband der Sowjetunion ausgeschlossen. 1970 erhielt Solschenizyn den Nobelpreis für Literatur, vier Jahre später schließlich emigrierte er in die USA. 1994 kehrte die große
moralische Autorität nach Russland zurück. Ein Nachruf.
Russland hat den homo sovieticus hervorgebracht, aber auch Solschenizyn. Wenn Solschenizyn die Antwort der russischen Kultur auf den bolschewistischen Angriff ist, so ist er auch die Verkörperung der Grenzen der russischen Kultur. Das sagen nicht wenige. Genau das macht das Paradoxe an ihm aus, und beschäftigt bis heute seine Bewunderer und Befürworter, und mehr noch seine Gegner. Denn an Gegnern mangelte es ihm nie. Und um es gleich zu sagen, er kam gut damit zurecht.
In der westöstlich geteilten Welt der Nachkriegszeit war es höchst ungewöhnlich, dass jemand beide Seiten, den Kapitalismus ebenso wie den Kommunismus, zu kritisieren wusste, ohne sie zu dämonisieren und gegeneinander aufzurechnen. Die Salonideologie eines Dritten Wegs zwischen Kapitalismus und Kommunismus war für ihn auch kein Thema, und er war kein Taktiker und kein geschmeidiger Formulant. Ihm ging es um die Wahrheit, die historische und die geschichtsmächtige.

Alexander Solschenizyn – die Ein-Mann-Opposition
Dass er nicht nur den Kommunismus, sondern auch die westliche Moderne ablehnte, ließ ihn bald als Erben alter russischer Geistestendenzen erscheinen – und das reichte damals in den frühen Siebzigern beinahe, um als diskreditiert zu gelten. In der Öffentlichkeit wimmelte es von Denunzianten. Sie lebten vom richtigen Leben im falschen – um ein Wort Adornos zu variieren. Sie lebten ganz gut davon.
Einzigartig ist die Wirkungsmacht des Auftritts Solschenizyns – der Ein-Mann-Opposition. Sie ist es immer schon gewesen. Da ist zunächst seine Erzählung „Ein Tag des Iwan Denissowitsch“, die in einem Modus des verfänglichen Realismus den Alltag eines Gulaghäftlings veranschaulicht, also eines Häftlings in einem sowjetischen Straflager. Ein Realismus von frappierender Überzeugung, der ein kleines Schicksal ins große Verbrechen stellt. Selbst der Marxist Georg Lukacs war davon so beeindruckt, dass er einen lobenden Essay darüber verfasste, der sogar in der Sammlung Luchterhand erschienen ist.
Seine Romane rührten am Kern der Sowjetunion
Es folgten die großen Romane, und sie alle streben in den einen, den am System der Sowjetunion rührenden Kern des Opus magnum Archipel Gulag, das bis heute die Vorstellungen und das Wissen über die stalinistische Repression und ihre Lagerwelt in Ost und West prägt. Und das zu Recht. Hier hat jemand in einem Kraftakt einen totalen Angriff auf das Verbrechen literarisch gestaltet. Nie ist der Kommunismus spektakulärer widerlegt worden als in diesem Fall. Wie war es möglich, dass ein Einzelner es schaffte, einem menschenverachtenden System dermaßen erfolgreich die Stirn zu bieten. Gegen alle Aussichtslosigkeit, wider alle Vernunft. Das konnte nur der Glaube sein, der ihn antrieb, und das ist eben das Ergebnis russischer Intelligenzia-Erfahrung. Den ausreichenden Glauben zu haben, der das Für und Wider obsolet erscheinen lässt.
Solschenizyn ist der Schriftsteller des 20. Jahrhunderts mit dem größten politischen Einfluss. In Russland wurde er zum Vorbild, in Westeuropa zum Auslöser von Debatten. In Frankreich hat die Solschenizyn-Debatte eine ganze Generation von damals jungen Philosophen, allen voran André Glucksmann, zum Umdenken veranlasst. Für sie war Mao, den sie verehrt hatten, durch Solschenizyn zur Wegwerfware geworden. Durch ihn haben sie die Kehrseite des Revolutionsfurors, die Frage der Menschenrechte, neu entdecken können. Ganz anders in Deutschland. Eine solche Diskussion gab es hier nicht.
Der aus der Sowjetunion ausgewiesene Solschenizyn wurde zwar von einem Heinrich Böll empfangen und von einem Horst Bienek hoch geschätzt, aber die bundesrepublikanischen Genossen Meisterdenker hatten Besseres zu tun, als sich mit dem Kommunismus auseinanderzusetzen. Dieses Versäumnis, diese Ignoranz, ist bis heute zu spüren, und sei es im sorglosen Umgang mit der DDR-Vergangenheit und politischen Hochstapler-Phänomenen wie der Linkspartei.
Aber auch er, Solschenizyn, hatte wenig Verständnis für die mit Marx munitionierte Salonlinke, die die Öffentlichkeit mit ihren Parolen überschüttete. Ihm war das alles zu banal. In der Tat. Welche deutschen Bücher der siebziger Jahre sind heute noch lesbar, legt man sie neben die von Solschenizyn? Er verließ die Sowjetunion. Er ging nach Amerika, zog sich in die Wälder von Vermont zurück, in eine Art privates Russland, und arbeitete unbeirrt an seinem Romanreihen-Projekt, an der großen Deutung des Absturzes seiner Heimat in den Bolschewismus, mit dem Obertitel „Das Rote Rad“.
Der exilierte Schriftsteller hält auch Westen Spiegel vor

Gleichzeitig war er öffentlich präsent durch mehrere Pamphlete, in denen er auch dem Westen den Spiegel vorhält. Er hatte eine gleichsam archaische Ausstrahlung, auch auf den Titelseiten der Magazine. So war Solschenizyn auch Sehnsuchtsbild einer Gesellschaft, die in einer Kultur von Surrogaten lebte. Für die Öffentlichkeit war er eine Sensation, er war das Original, und so erhielt er auch seinen Platz in den Schaufenstern der Konsumgesellschaft. Und das, ohne jemals in sie integriert worden zu sein. In ihm erkannte man, wenn auch nur noch vage, den russischen Schriftsteller des 19. Jahrhunderts, und er hatte auch dessen Autorität, die eines Tolstoj. Eine Autorität, die man zur Kenntnis nahm, bisweilen bloß achselzuckend, aber wer ihn hören wollte, konnte ihn hören. Die westliche Welt, die während des Kalten Krieges die Metaphysik so weit von sich gewiesen hatte, dass die Philosophie nur noch soziologisch sein konnte, konnte mit Solschenizyns Wissen wenig anfangen.
Als Solschenizyn nach zwanzig Jahren Exil nach Russland zurückkehrte, war die Sowjetunion tot, aber der homo sovieticus lebendig wie eh und je. Solschenizyn inszenierte seine Rückkehr in spektakulärer Weise mit einer Bahnfahrt durch das Imperium von Ost nach West. Er kam sozusagen über Sibirien nach Moskau zurück. Was er sah, war nun das zerklüftete Reich des Boris Jelzins und dessen, was noch kommen sollte. Ein Reich, in dem es weder die alte noch eine neue Ordnung gab. Das bestärkte den Schriftsteller in seinen Auffassungen von einem tradierten kulturhistorisch begründeten Autoritarismus. Auch er selber hatte Autorität, sie war aber eingeschränkt. Man ehrte ihn, aber gestand ihm keinen Einfluss zu.
Von Solschenizyns Unbeirrtsein kann jeder lernen
Russland hatte sich, nach einem dilettantischen Demokratisierungsversuch in den frühen neunziger Jahren, zunehmend zu einem ideologischen Patchwork geformt, in dem fast alles Platz fand, auch der ehemalige Superdissident. Gesiegt hatte der Kreml, wer auch immer im Kreml saß. Solschenizyn jedenfalls war es nicht. Er ist bis zuletzt der eigensinnige Denker geblieben, der gelegentlich zum Mahner wurde. Solche Menschen sind in den modernen Zeiten selten.
Von seinem Unbeirrtsein konnte jeder lernen, jeder kann es auch weiterhin, selbst wer ganz anderer Meinung sein sollte. Und wenn man auch nur lernen würde, dass die Meinung nicht alles ist, vor allem die schnelle nicht, die schnell zu revidierende.
FONTE: Tagespost - Germany

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