quinta-feira, maio 08, 2008

Der letzte Samurai erklimmt den Olymp

7. Mai 2008, Neue Zürcher Zeitung
Schweizer auf dem Weg nach Peking VII
Der letzte Samurai erklimmt den Olymp

Sergei Aschwanden ist der einzige Schweizer Judoka, der die Qualifikationsmühle überstanden hat
Remo Geisser

Als Bub war er ein ziemlicher Kotzbrocken. Sergei Aschwanden verdrosch systematisch die Klassenkameraden. Einfach so, weil ihm das Spass machte. Die Mutter schickte den Lümmel ins Judo, damit er sich etwas abreagiere. «Genützt hat es wenig», sagt Aschwanden. Er habe sich erst mit etwa 15 beruhigt. «Da war ich am Gymnasium und musste mich beherrschen, damit ich für die Judoturniere und Trainingslager frei bekam.» Es gab noch andere Sportarten, in denen der Romand positiv auffiel, zum Beispiel Fussball. Aber am Ende war es eben doch der Kampf Mann gegen Mann, der ihn faszinierte.
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Lebenszentrum Magglingen
Jetzt ist Aschwanden 32. In der Sportler-Bar in Magglingen turnt er über einen Polstersessel, ein paar Frauen kichern. Seit sieben Jahren lebt der Judoka hier oben, weit weg von der Hektik der Städte. Nein, das sei keine Insel, auf der man sich isoliere, sagt Aschwanden. Er habe ein soziales Netz und führe ein ganz normales Leben. Das Besondere sei, dass auch für die anderen Menschen hier oben der Sport im Mittelpunkt stehe. Das schaffe eine einzigartige Atmosphäre. Eine Atmosphäre, die er noch einige Zeit geniessen wird. Nach den Olympischen Spielen wird zwar die berufliche Zukunft etwas mehr in den Mittelpunkt rücken. Aber das Lebenszentrum wird Aschwanden belassen, wo es ist. Vor zwei Jahren hat er ein Sportstudium begonnen. In Magglingen.
Doch nicht das ganze Leben spielt sich oben am Berg ab, am Ende der Welt. Als Judoka ist Aschwanden häufig unterwegs. Rund dreissig Wochen pro Jahr sei er im Ausland, sagt er. Dort absolviert er Trainingslager, in denen er sich mit anderen Spitzenathleten misst. «Mein Trainingsgerät ist der Gegner», sagt Aschwanden, «und wenn ich Fortschritte erzielen will, brauche ich die besten Trainingsgeräte.» Bei den Zusammentreffen der Weltklasseathleten wird Tag für Tag intensiv gekämpft. Es werden Trainingswettkämpfe absolviert, wobei Trainer Leo Held genaue Lernziele vorgibt. Die Zeit in Magglingen dient hingegen eher der Regeneration, der technischen Schulung und dem Konditionstraining.
Derzeit legt Aschwanden die Basis für die Spiele in Peking. Während dreier Wochen verbringt er täglich 13 bis 15 Stunden in einem Höhenzimmer, total mindestens 300 Stunden. In dem Zimmer kann die Zusammensetzung der Atemluft so verändert werden, dass der Sportler virtuell auf 2800 Metern über Meer lebt. Das stimuliert die Produktion roter Blutkörperchen und trägt zur Verbesserung der Leistungsfähigkeit bei. Aber es ist auch ein mentaler Härtetest. Das Zimmer ist zehn Quadratmeter gross, und die Einrichtung beschränkt sich auf Bett, Stuhl, Tisch, Lavabo und TV-Gerät. Der Athlet wird in den endlosen Stunden in dem Zimmer auf sich selber zurückgeworfen, stellt sich Tausende von Fragen. «Wer das nicht aushält, sollte mit dem Spitzensport aufhören», sagt Aschwanden.
In den einsamen Stunden wird der Schweizer auch Zeit haben, sich noch einmal mit der Knochenmühle der Olympiaqualifikation zu befassen. Ein Jahr lang wurde gekämpft, und mancher Spitzenkönner wurde aufgerieben. Es gibt Welt- und Europameister, die nicht nach Peking dürfen. Und auch in der Schweiz zerbrachen grosse Hoffnungen. 2000 in Sydney traten drei Schweizer Judokas an, vier Jahre später in Athen waren es zwei. Und nun ist nur noch Aschwanden übrig. Die anderen haben ihre Sachen gepackt und versuchen, in den Ferien das Scheitern zu vergessen. Aschwanden hockt allein im Höhenzimmer. Im August wird er zum dritten Mal bei Olympia antreten. Und beten, dass es ihm nicht ergeht wie bei den ersten beiden Starts. Im Jahr 2000: In der ersten Runde vom Russen Budolin auf der Matte festgenagelt – aus. Im Jahr 2004: Vom Argentinier Sganga im ersten Kampf in den Schwitzkasten genommen – aus. Und wieder musste er vier Jahre einem einzigen Ziel unterordnen.
Vier Jahre lang körperliche Grenzerfahrungen. Judokas vergleichen sich mit 400-Meter-Läufern. Sie verbrennen mehr Sauerstoff, als ihre Lungen ins Blut pumpen können, der Organismus reagiert mit der Ausschüttung von Lactat. Ein Untrainierter würde in Ohnmacht sinken. Doch der Judoka reisst auch im Halbkoma noch an der Jacke seines Gegners und versucht, zum entscheidenden Wurf anzusetzen. Judo heisst wörtlich der sanfte Weg, doch es ist eine Kraftsportart. Wenn Sergei Aschwanden seine Jacke auszieht, verwandelt sich der elegante Athlet in eine Muskelmaschine. Dreimal pro Woche stählt er seinen Körper im Kraftraum. In Peking wird er neun Kilogramm mehr auf den Rippen haben als bei seinen früheren Olympiateilnahmen. Erstmals tritt er auf diesem Niveau in der Kategorie bis 91 Kilogramm an. Das verlangt zwar einige Umstellungen in der Technik, weil die Gegner nun grösser und ebenfalls schwerer sind. Aber der Schweizer muss nun nicht mehr so viel hungern vor dem Wettkampf. Das sogenannte «Gewichtmachen» geht körperlich und mental an die Substanz.
Doch das Gewicht spielt erst unmittelbar vor dem Wettkampf eine Rolle. Nun steht zuerst das Basistraining an, dann folgt der Formaufbau auf der Matte. Vier Trainingslager hat Nationaltrainer Held bis zu den Spielen geplant: In Moskau, Minsk, Barcelona und Japan, dazwischen absolviert Aschwanden das Weltcup-Turnier in Madrid und einen Wettkampf in Deutschland. In Japan stehen ab dem 20. Juli die Akklimatisierung und der letzte Feinschliff auf dem Programm. Weil sich dann die Spitzenleute aus dem Weg gehen, nimmt Held fünf Trainingspartner für Aschwanden mit. Einer davon wird für Peking akkreditiert. Denn ohne Trainingsgerät kann sich kein Judoka für den Kampf um die Medaillen aufwärmen.
Ein Medaillengewinn das Ziel
Ja, eine Medaille ist das Ziel, auch wenn das nach zweimaligem Scheitern an Olympia nicht mehr so offensiv kommuniziert wird. Aschwanden war zweimal Europameister und zweimal EM-Dritter, dazu gewann er an WM Silber und Bronze. Ein solcher Athlet gibt sich nicht mit der blossen Olympiateilnahme zufrieden. Doch hohe Erwartungen können sich negativ auswirken. «2004 ist Sergei am Druck zerbrochen», sagt Trainer Held. Was kann er tun, damit das nicht noch einmal geschieht? Der Coach doziert die Philosophie der Samurai. «Wer in den Kampf zieht, muss sich bewusst sein, dass dies sein Ende sein kann.» Auf Aschwanden übertragen bedeute dies, dass er bereit sein müsse, erneut in der ersten Runde zu verlieren. Er dürfe sich nicht von der Angst des Versagens überraschen lassen, sondern auf diese vorbereitet sein. Konkret bedeutet dies, dass im Training gewisse Abläufe so automatisiert werden, dass sie auch bei einer inneren Blockade noch funktionieren. Und wenn das nichts nützt? Er habe sich viel mit der Niederlage von Athen beschäftigt, sagt Aschwanden. Letztlich müsse er akzeptieren, dass Judo so funktioniere. «Man kann sich keinen Fehler erlauben. In einer Hundertstelsekunde kann alles kippen. Das ist, als ob im Tennis jeder Ball matchentscheidend wäre.»
FONTE: NZZ Online - Zurich,Switzerland
http://www.nzz.ch/

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